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Muttermilch – richtig nähren mit diesem mythischen Universalheilmittel

Teil 2

Wir wissen, dass unsere Großmütter ihre Kinder gestillt haben, unsere Urgroßmütter vermutlich auch. Sicher ist, dass Frauen schon vor sehr langer Zeit ihrem Nachwuchs unvoreingenommen und natürlich die Brust gegeben haben, so wie alle anderen Säugetiere auch. Im 20. Jh. erreichten die Stillquoten jedoch einen historischen Tiefststand!

Lange Zeit sicherte die Nahrung mit Muttermilch das Überleben eines Neugeborenen. Seit der Antike wurde Stillen wertgeschätzt und in Mythologie, Kunst und Religion auf der ganzen Welt dargestellt. In der Antike und im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris galt die Fütterung mit der Brust als heilig; Göttinnen wurden mit der nackten Brust gemalt, ebenso in Ägypten. Die Göttin Isis soll ihren Sohn Horus gestillt und ihm damit geistige Nahrung und Unsterblichkeit geschenkt haben. Im alten Griechenland wurden die Göttinnen Hera, Demeter und Gaia als Stillende dargestellt; eine Skulptur zeigt Artemis gleich mit mehreren Brüsten und unterstreicht dadurch die Bedeutung des Nährenden und Schützenden. Plutarch schrieb, es sei notwendig, dass Mütter ihre eigenen Kinder stillen, weil sie demnach diese mit mehr Liebe und Freundlichkeit verwöhnen würden. Nach Galen konnte die Natur durch die Muttermilch für das Baby ein Heilmittel vorhersehen und herstellen. Bis zu Beginn der Neuzeit wurden der Muttermilch magische Eigenschaften zugeschrieben. Die Übertragung von sowohl physischen als auch psychischen Besonderheiten durch die Frau wurde vermutet. Nach heutigem Stand der Forschung ist bekannt, dass damals die Menschen die Bedeutung der Muttermilch richtig wahrgenommen haben. Noch im 17. Jh. galt die Muttermilch als einzige Ernährungsform des Kindes bis zu sechstem Lebensmonat, wohl um die Liebe zwischen Mutter und Kind zu fördern. Seit der Industriellen Revolution war das Stillen mit dem zunehmenden Einsatz der Mütter außer Haus nicht mehr vereinbar. Künstliche Nahrung wurde Standard, die Bedeutung der Flasche stieg, obgleich vielerorts Muttermilchbanken öffneten. Aufgrund der Bevölkerungspolitik und der hohen Säuglingssterblichkeit stiegen bis 1945 die Stillquoten wieder an; das „Flascherl“ galt als todbringend. Die wenigsten Neugeborenen überlebten die Gabe der unphysiologischen Ernährung. Mit Mitte des 20. Jh. verbesserte sich die Zusammensetzung des Milchersatzes, die Quoten der stillenden Frauen sanken ab 1950 rapide. Mit der Bewerbung derartiger Produkte wurde die Mutter aus der Pflicht genommen und das Stillen als ihre Entscheidung propagiert, gleichzeitig die Praktikabilität herausgestrichen und die Väter zum Füttern in die Pflicht genommen. Ein riesiger Markt für Produkte rund um die industrialisierte, „nach dem Vorbild der Natur“ angepriesene Milch entstand. Das Ergebnis war prompt ein weiteres Absinken der Stillquoten. Der Weg führte weg von der Natur, das Vertrauen wurde in die Überlegenheit der Technik gesteckt, das mythische Universalheilmittel durch standardisierte, industriell hergestellte Säuglingsnahrung (Instantnahrung oder Formulanahrung genannt) ersetzt.

Heute gilt das Stillen mancherorts als zweiter Entwicklungsmeilenstein nach dem Atmen. „Stillen ist eine traditionelle Nahrung, die geschützt werden sollte“ beschreibt die Stillberaterin Aiden Farrow, IBCLC (International Board Certified Lactation Consultant – ein international geschützter Titel für examinierte Still- und Lactationsberaterinnen); die Muttermilch, sie geht weit zurück bis zu unserer Schöpfung [1]. In der analogen Betrachtung wird durch den Bedarf an Muttermilch das Element Wasser des Menschen gestillt. Das Wässrige ist die Verbindung mit den Wurzeln – mit dem Mütterlichen und unserer Herkunft. Das Element Wasser „ist der Nährboden, die Basis allen Seins, Nahrung für sein Entstehen. In ihm liegt die Ruhe als Ausgangspunkt allen Wachsens, der Regeneration“ [2]. Das Element Wasser ist nährend, anhaftend und bewahrend. Fehlt es, dann wird der Mensch nervös, unruhig, infektanfällig und geschwächt. Aus diesem Blickwinkel zeigt sich bildhaft die immense Bedeutung des Stillens.

Stillen ist eine wichtige Säule für die Entwicklung und das Wachstum mit einer Vielzahl von Vorteilen. Die Muttermilch enthält Bakterien, zusätzlich zu den Nährstoffen und bioaktiven Inhaltsstoffen, die den Aufbau der Darmmikrobiota (früher Darmflora genannt) und damit die Entwicklung des Immunsystems positiv unterstützen, wie im ersten Teil beschrieben. Außerdem treten spezifische Antikörper in die Muttermilch über. Auf diese Art und Weise erhalten Säuglinge durch die Mutter etwa deren Covid-19 – Antikörper. [3]. Darüber hinaus ist das Stillen wichtig für die kognitive Entwicklung. Beim Stillen werden vom Kind mehr als 40 Muskelpaare genutzt, wodurch die gesamte Mund- und Kieferregion aktiviert wird, beim Flaschenkind sind es wesentlich weniger. Neben der Bedeutung für die ideale Kieferentwicklung und damit der Zahnstellung wird außerdem die Sprachentwicklung unterstützt. Darüber hinaus kann davon ausgegangen werden, dass bei jedem effektiven Stillvorgang die rechte mit der linken Gehirnhälfte verknüpft wird. Dies ist nötig für die Entwicklung von Empathie und Intelligenz sowie dem Erfassen von komplexen Zusammenhängen. Für die Gehirnentwicklung ist das Vorhandensein von Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren entscheidend, welche nur sehr schleppend der Formular-Nahrung beigemischt werden, allerdings in immer gleichen Mengen. Die entsprechende Dosis für den Säugling in der Muttermilch ist jedoch dem individuellen Bedarf anpasst! Ähnliches gilt für den allgemeinen Nährstoffbedarf, der Entwicklungsprioritäten berücksichtigt.

Die Muttermilch kann in verschiedenen Farbvariationen auftreten: von weiß bis klar oder gelb. Sie ist aus mehreren hundert verschiedenen Bestandteilen zusammengesetzt, die synergistisch wirken und auf die im ersten Teil detailliert eingegangen wurde. Die Muttermilch ist einfach immer perfekt zusammengesetzt; sowohl Nahrung als auch Getränk. Sie verändert sich nach den Bedürfnissen. Die Muttermilch nach einer Frühgeburt ist anders zusammengesetzt als nach einer Geburt rund um den Termin; ihre Inhaltsstoffe sind an die Nährstoffbedürfnisse eines Frühgeborenen angepasst. Grundsätzlich ist die Muttermilch äußerst leicht verdaulich und wird optimal verwertet und aufgenommen.

Sehr vereinfacht betrachtet wird Muttermilch in den Milchbläschen des Brustdrüsengewebes gebildet, der Vorgang variiert je nach Lactationszyklus und ist äußerst komplex. Bereits vor der Geburt bildet sich dort das Kolostrum, die Vormilch aus. Sie ist dickflüssiger und meist durch den Gehalt an Carotinoiden gelblich gefärbt. Im Vergleich zur reifen Muttermilch ist sie fettarm, weist einen hohen Eiweißgehalt auf sowie Immunstoffe, die das Kind vor allem vor Infektionen schützen sollen. Außerdem wird damit der Darm gepflegt und ausgekleidet. Mit einem bis wenigen Tropfen Vormilch ist das Kind geschützt, genährt und mit allem Nötigen versorgt. Die Natur stellt alles bereit, das für ein Überleben des Neugeborenen im Notfall von elementarer Bedeutung ist; bereits ab der sechzehnten Schwangerschaftswoche wird dieser großartige Powerdrink in seiner Vielfalt bereitgestellt. Durch das frühe, allererste Anlegen an die Brust wird die Kommunikation zwischen Mutter und Kind verbessert. Die Mutter wird vor verstärkten postpartalen Blutungen bewahrt. Die Ausscheidung des Mekoniums, des ersten Stuhls des Neugeborenen, wird unterstützt. Dieser Stuhl enthält viel an Biliverdin, einem Abbauprodukt des Hämoglobins, wodurch seltener eine behandlungsbedürftige Neugeborenengelbsucht auftritt. Das Saugen an der Brust regt die Bildung der reifen Muttermilch an, erhöht die Milchmenge und verlängert die Gesamtstilldauer. [4] Der eigentliche Milcheinschuss kann bis zu 14 Tage auf sich warten lassen. Das Kind verhungert in dieser Zeit sicher nicht, egal was die Krankenschwester über den Arzt bis hin zur (Schwieger)mutter erzählen. Die Vormilch reicht aus, solange das Kind 8-12 mal in 24 Stunden an den Mamillen beidseits effektiv saugt. Die Muttermilch verändert sich allmählich hin zur reifen Muttermilch. Bedacht werden sollte dabei auch, dass der Magen des Babys bei der Geburt winzig ist, lediglich die Größe einer Murmel hat.

Das vielfach als praktisch angepriesene Flascherl bewirkt nachweislich weniger Hautkontakt. Diese Kinder verbringen meist verschwindend geringe Zeiten in Körperkontakt mit der Mutter, wodurch deren Risiko für einen sogenannten Babyblues oder gar für eine Depression erhöht ist; Schlafstörungen sind möglich. Mütter, die die Brust geben, neigen um 80% seltener an Stimmungstiefs, schlafen tiefer und besser, weil sich deren Schlafrhythmus jenem des Säuglings anpasst. Das Risiko für plötzlichen Kindstod wird minimiert. Flaschenkinder neigen zu Übergewicht! Ihre Nahrungsaufnahme bedeutet für sie – anders als bei gestillten Kindern – keine Anstrengung. Gestillte Säuglinge trinken, bedingt durch den Milchspendereflex, in Intervallen, vergleichbar mit mehreren kleinen Gängen und Pausen. Flaschennahrung kommt ohne diese „Essenspausen“ aus, die Milch rinnt in Babys hinein bis das Sättigungsgefühl eintritt und die Kinder überfüttert sind. Gestillte Kinder hören auf zu trinken, wenn sie satt sind. Sie nuckeln dann zur Erfüllung ihres Nähebedürfnisses weiter. Häufig heißt es, dass Kinder mit Formularnahrung besser schlafen. Würden wir abends nach dem Verzehr von dreimal Schweinsbraten mit Knödel erholsamen Schlaf finden? Keineswegs! Instantnahrung enthält lediglich Nährstoffe; sie stellt nicht einmal annähernd einen Ersatz dar, für den sie angepriesen wird. Dabei handelt es sich vielmehr um ein künstlich aufbereitetes Präparat für den Krisenfall, damit der Säugling im Notfall nicht verhungert. Mütter, deren Kinder zu wenig Muttermilch bekommen oder deren Kinder schlechter zunehmen als mit der Flasche aufgezogene Kinder, sollten zunächst professionelle Hilfe einer Stillberatung in Anspruch nehmen. Von der WHO empfohlen wird das Trinken an der Brust; Spritzen mit Feeder oder Sonde sowie Brusternährungssets werden demnach im Bedarfsfall der Flasche vorgezogen. Im Interesse des Kindes soll auf keinen Fall auf eigene Faust zu dem beworbenen Notfallmittel gegriffen werden. Bereits eine einmalige Gabe von Flaschennahrung nach der Geburt verändert die Darmflora nachhaltig für das ganze Leben. Muss, aus welchen Gründen auch immer, zugefüttert werden sollten die oben genannten Hilfsmittel mit humaner Spendermilch gefüllt sein, im äußersten Fall die Flasche. Entsprechende Milchbanken sind in größeren Städten wie Wien, Linz oder Salzburg eingerichtet. Außerdem sollte den Kindern das Fläschchen an der nackten Brust gegeben und die Seite zum Anlegen öfter gewechselt werden. Wir Menschen möchten, wenn wir verliebt sind, Nähe ohne Maß, überfließend und einhüllend genießen, nicht wahr? Und wir sehnen uns noch immer im tiefsten Inneren nach jener bereits zu Beginn des Artikels im ersten Teil gefragten Arznei, die uns unversehrt, verbundener und intelligenter werden lässt.

Die Stillraten haben sich seit den neunziger Jahren trotz aller Untersuchungen, nach Studienergebnissen und Empfehlungen nur geringfügig verbessert. Neben all den Vorteilen bringt das Stillen teilweise auch Probleme mit sich, sowohl körperlich als auch psychischer Natur. Für eine glückliche, gelungene Stillzeit ist Information während der Schwangerschaft die oberste Vorbereitung. Vielfach wird leider gar nicht, antiquiert oder falsch beraten. Die Stillquote könnte durch eine geeignete Beratung, vor allem ab der Mitte der Schwangerschaft, massiv erhöht werden. Ein Großteil der Frauen, die eine derartige Beratung erhalten haben, Stillen über das erste Lebensjahr hinaus und liefern damit ihren Kindern genau jenes Gesundheitswundermittel, von dem wir eigentlich träumen. Wir sehnen uns nach der Göttin Venus, nach Nähe, Geborgenheit, Fürsorge, Intuition und Gesundheit. All das liegt im Geschenk der für das Kind maßgeschneiderten Ernährung durch die Mutter. Denn es gilt: Für alle Kinder ist Muttermilch Medizin und damit ist Stillen vorausschauende Therapie.

Vielen Dank für die fachliche Beratung durch Sigrid Moser, Stillberaterin IBCLC, mobile-stillberatung.at

[1] „Breastfeeding is a traditional food that should be protected“, indiginews.com/vancouver-island/breastfeeding-is-a-right-that-shouldnt-be-taken-away and journals.sagepub.com/doi/epub/10.1177/0890334419887958, abgerufen am 05.05.2021

[2] Dieter Poik: 5 Elemente – Begleiter auf dem Weg zum Menschen – Freya Verlag

[3] „COVID-19 und Stillen: Aktuelle internationale Empfehlungen“, www.stillen-institut.com/de/coronavirus-covid-19-und-stillen-aktuelle-empfehlungen.html, abgerufen am 05.05.2021

[4] Christine Lang: Bonding – Bindung fördern in der Geburtshilfe – Urban & Fischer in Elsevier Verlag

Literatur bei der Verfasserin.

Weitere Informationen unter: www.llli.org/germanwww.stillen-institut.com

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Text zur Verfügung gestellt von
Mag.a pharm. Dr. Gabriele Kerber-Baumgartner
www.apotheke-hofwiese.at