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Gedanken über Märchen als Kraftquelle für den Alltag.

Von der grantigen Schicksalsfrau und ihrem Geschenk …

Das Schöne an Märchen ist, dass sie in klaren Bildern schnurstracks auf das Wesentliche eingehen. Genau deshalb werden diese Geschichten seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden, erzählt. Natürlich sind sie auch kulturhistorisch interessant, und natürlich haben sie auch einen nostalgischen Charme. Entscheidend aber ist, dass sie grundlegende menschliche Erfahrungen, Ängste und Hoffnungen auf den Punkt bringen.

Zuallererst wird im Märchen immer ein existenzielles Problem aufgezeigt. Die Heldin oder der Held der Erzählung merkt: So kann es nicht mehr weitergehen! Es muss etwas geschehen. Es gilt eine Lösung zu finden.

Damit beginnt die eigentliche Geschichte. Nehmen wir eben als Beispiel das Volksmärchen »Von der grantigen Schicksalsfrau«1

Für alle, die mit österreichischer Mundart nicht so bewandert sind, eines vorweg: Ein Grant ist ein Ärger. Und eine grantige Schicksalsfrau wünscht sich kein Mensch. Aber wenn eine Erzählung schildert, wie man mit einer grantigen Schicksalsfrau umgehen kann, um sie milde und wohlwollend zu stimmen, dann ist das karmisch gesehen eine wirklich brauchbare Geschichte.

Der Inhalt des Märchens kurz zusammengefasst:

Eine verarmte Prinzessin erfährt, dass sie offenbar ein »Unglücksrabe« ist. Schlimm genug, dass ihr Leben unter diesem tristen Vorzeichen steht. Offenbar hat sie das Unglück auch schon über ihre Familie gebracht. Schnell entschlossen packt sie ihre Sachen und bricht auf. Zum einen will sie die Familie nicht weiter mit hineinziehen in ihr eigenes Unglück. Zum anderen will sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen und das Ganze zum Glücklichen wenden.

Dabei muss sie aber schnell feststellen, dass ihre Schicksalsfrau eine bösartige Alte ist, die ihr immer und überall hin folgt. Die wird sie so schnell nicht los, denn die verbitterte Alte ist überhaupt nicht bereit von ihrem »Opfer« abzulassen. So sehr unsere Heldin auch gegen ihre Schicksalsfrau ankämpft: Es hilft alles nichts. Immer wieder setzt sich die Alte durch und macht erbarmungslos klar, wer hier das Sagen hat. Wer selbst schon erfahren hat, wie massiv familiäre Prägungen und Gewohnheiten wirken können, entdeckt in diesem Märchen schnell ein Stück Lebensalltag. Unsere Heldin weiß in ihrer Not schlussendlich nicht mehr aus und ein.

Da trifft sie am Weg Franziska. Die ist eine einfache Wäscherin. Eine Frau also, die gewohnt ist Tag für Tag vieles sauber zu machen und zu bereinigen. Und – wie so oft im Leben – bringt diese scheinbar unbedeutende Begegnung die Wende. Denn Franziska weiß, wie man mit einer Schicksalsfrau umgeht. Nicht das Aufbegehren und der Kampf helfen weiter. Es gilt die verbitterte Alte milde zu stimmen. Das geschieht freilich nicht von heute auf morgen. Dazu braucht es Geduld und einen langen Atem. In anschaulichen Bildern zeigt das Märchen wie einfühlsam sich unser »Unglücksrabe« um die eigene Schicksalsfrau annimmt. Das bleibt nicht ohne Wirkung. Aus der verhärmten Alten wird nach und nach eine strahlende Schöne.

Das Märchen setzt aber noch eins drauf:

Die so verwandelte Schicksalsfrau hat für unsere Heldin ein Geschenk. Auf den ersten Blick steckt hinter dieser vermeintlichen Kostbarkeit eine große Enttäuschung. Ja, die Heldin fragt sich, ob die Schicksalsfrau mit ihr nicht einmal mehr ein böses Spiel treibt. Erst in der Lebenswirklichkeit stellt sich heraus, dass dieses Geschenk das fehlende Stück zu ihrem Glück ist.

Freilich ist das nur ein Beispiel von vielen Märchen, die die Entwicklung eines Menschen schildern, der unter einer Situation leidet, zu einem Menschen, der gelernt hat mit dem eigenen Schicksal umzugehen und es glücklich zu meistern – ein beeindruckendes Frauenmärchen.

Ein männliches Pendant ist das Märchen »Vom Burschen, der zur Sonne gegangen ist«**

Da taumelt einer kraftlos durchs Leben. Ein kleiner Stier, also die wilde Urkraft, regt ihn an, sich aufzumachen, um von der Sonne Kraft für sein Leben zu bekommen. Am Weg gilt es allerdings einiges für Andere zu tun. Sein Glück, dass er sich darauf einlässt. Deshalb hat auch seine Reise Erfolg.

Immer wieder schildern Märchen die unterschiedlichsten Probleme und Herausforderungen, die sich im Leben ergeben können. So eindringlich Märchen aber auch die missliche Lage ihrer Protagonisten schildern, so fantasievoll und klar deuten sie auch die Wege zur Lösung dieser Probleme an.

Die Heldinnen und Helden des Märchens zeigen anschaulich auf, dass und wie es gelingen kann über sich hinauszuwachsen. Selbst in den schlimmsten Situationen taucht – oft unverhofft – Hilfe auf und der rettende Weg tut sich auf. Entscheidend ist dabei dass die Heldin oder der Held sich selber treu bleiben.

Man denke nur an das burgenländische Märchen »Armreich und Schmerzenreich«***. Da lässt die Mutter ihrer eigenen Tochter die Hände abhacken. So entsetzlich das auch ist: Selbst hier findet die Geschichte zu einem glücklichen Ende. Bei aller Grausamkeit zählt vor allem die Botschaft, die zwischen den Zeilen hervorschreit: Wenn ein Mensch in einer derart furchtbaren Situation noch zu einem glücklichen Leben finden kann, dann lohnt es sich – mit Blick auf schwierige Situationen im eigenen Leben – nicht in Selbstmitleid zu verfallen, sondern die Lösung entschlossen anzugehen.

Natürlich verlangen unterschiedliche Lebenssituationen nach unterschiedlichen Geschichten. Wer fühlt sich nicht hin und wieder geringgeschätzt wie Aschenputtel, oder überfordert, weil jemand meint, man könne und solle Stroh zu Gold spinnen. Auch die Trauer über den Verlust von Familienmitgliedern und Freunden wird im Märchen angesprochen, sei es ganz direkt, wie im steirischen Volksmärchen »Vom Hahnengiggerl« oder bildhaft im Kärntner Zaubermärchen »Vom roten Apfel«.

Fertige Antworten geben Märchen keine, aber jede Menge Anregungen mit der jeweiligen Situation umzugehen. Deshalb gibt es ja auch diese Fülle von Märchen. Verpackt in archetypischen Bildern und Gestalten werden die unterschiedlichsten Lebenssituationen anschaulich dargestellt. Wie beim Essen heißt es dann selbst zu entdecken was einem schmeckt und gut tut – und was nicht. No na!

Aber eins gilt wohl für alle Menschen und macht das Wesen dieser Überlieferungen aus:

Wer Märchen immer wieder einmal auf sich wirken lässt merkt schnell, dass diese Geschichten erstaunliche Kraftquellen eröffnen.

Dabei geht es natürlich nicht darum aus einer vermeintlich rauen Wirklichkeit in zuckersüße Fantasiewelten zu flüchten, sondern darum, mit geistiger Wendigkeit aus einer reichen Fantasie heraus den Alltag zu gestalten.

1 Dieses Zaubermärchen ist im Hörbuch »Von einem, der träumte ein Schmetterling zu sein. Oder umgekehrt!?« und auf www.maerchenerzaehler.at unter »Programme« bei »Zum Reinhören« zu hören.

** nachzulesen im Band »Das Geschenk der zwölf Monate – Märchen, Bräuche und Rezepte im Jahreskreis«

*** nachzulesen im Band »Von Drachenfrau und Zauberbäum – Das große österreichische Märchenbuch«

Text und Foto zur Verfügung gestellt von
Helmut Wittmann
 www.maerchenerzaehler.at