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Das Ohr des Judas

Der Winter ist eine Zeit des Innehaltens und der Ruhe; die Natur zeigt sich von Reif oder Schnee umhüllt. Im Vergleich zu anderen Jahreszeiten findet sich wenig „Sammelgut“. An eine Pilzpfanne zum Jahreswechsel denken wohl die wenigsten der sonst eifrigen Sammler. Im tiefsten Winter lässt sich aber tatsächlich der Pilz, das Ohr des Judas, finden.

Der Pilz Auricularia auricula-judae ist ein Speise- und Vitalpilz, der durch seine Form an ein Ohr erinnert. Er wächst vorwiegend auf Holunderbäumen und ist über das ganze Jahr zu finden. Im Jänner entwickelt er für gewöhnlich neues Wachstum, sodass dieser Pilz im späten Winter durch seine unverwechselbare Form leicht zu finden ist. Auch wenig Geübte können den Pilz erkennen und ohne Gefahr sammeln, denn giftige Doppelgänger sind nicht bekannt.

Der Gattungsname Auricularia leitet sich aus dem Lateinischen von „auris, auricula“ – dem Öhrchen ab. Für den Artnamen ist überliefert, dass sich Judas Iskariot nach seinem Verrat an Jesus an einem Holunderstrauch erhängt hatte, auf dem derartige „Ohren“ zu finden waren. Auch der deutsche Name Judasohr geht auf diese Legende zurück.

Der Pilz wächst als Schwächeparasit und Saprophyt auf alten, anfälligen und absterbenden Ästen, zumeist des Hollers und kommt auf vielen anderen Laubhölzern wie etwa dem Ahorn und der Buche vor. Ungeklärt ist bis dato, weshalb ausgerechnet der Holunder bevorzugt wird. In Zeiten der Dürre trocknet der Schwamm komplett ein. Nach Monaten des Wassermangels nimmt er in regenreichen Perioden wieder Feuchte auf, quillt, wächst weiter und bildet Sporen aus. Aufgrund dieser Eigenschaft lässt sich aus 20 g getrocknetem Pilz ein Gericht für die ganze Familie zaubern.

Auricularia polytricha hat in der chinesischen Medizin als Mu-Err eine lange Tradition. In der Traditionellen Europäischen Medizin zählt sein Verwandter, das Judasohr, zu den wenigen Pilzen, die in den Kräuterbüchern des Mittelalters zu finden sind. Unter der Bezeichnung Fungus sambuci sind seine Anwendung bei Augen- und Halsentzündungen beschrieben. Er gilt durch seine Wärme- und Feuchtigkeitsqualitäten ausgleichend, ist jedoch selbst kühlend und befeuchtend, also phlegmatischer Natur. Lonicerus schreibt: „Hollunderschwämme löschen und drucken nieder allerley Hitze und Geschwulst“. Er empfiehlt den Pilz in Rosenwasser oder Wein einzuweichen und dann auf den betroffenen Stellen aufzulegen.

Der Pilz Auricularia hat eine zähfleischige, gallertige Konsistenz mit wenig Eigengeschmack. Er erreicht einen Durchmesser bis zu zehn Zentimeter, seine Farbe ist bräunlich, obwohl eine seltene, weiße Varietät beschrieben wird. Die Ursache für diese Albinovariante ist jedoch unbekannt. Wie alle Vitalpilze ist er aufgrund seines Chitinkörpers schwer verdaulich. Die Inhaltsstoffe lösen sich nur schwer aus dem ganzen Pilz heraus. Er ist daher vor der Verarbeitung in möglichst feine, dünne Streifen zu schneiden. Ist der Schwamm getrocknet, wird er in jeder gewünschten Marinade für ein paar Stunden oder über Nacht eingelegt, damit alle Aromastoffe aufgesogen werden können. Hernach kann er weiter verarbeitet werden. Passend zur kalten Jahreszeit wird er in Eintöpfen gemeinsam mit Rüben, Karotten und nach Bedarf mit etwas Hühnerfleisch zubereitet. Das fehlende Eigenaroma des Judasohr ermöglicht eine Verarbeitung in nahezu jedem Gericht. Muskat, Zimt und besonders Bertram sowie verschiedene flüssige Würzen wie Pilz- oder Austernsauce bestimmen den Geschmack der Speise.

Dieser Vitalpilz enthält vor allem die typischen Polysaccaride, ebenso Phenole und Adenosin, das für den Effekt auf das Herz-Kreislaufsystem verantwortlich gemacht wird – das Judasohr steigert nachweislich die Produktion von gefäßerweiterndem Stickstoffmonoxid.

Auricularia wirkt entgiftend und antioxidativ. Gelbgallige Schärfen werden ausgeschieden und eine Kühlung und Befeuchtung erzielt. Der Schwerpunkt liegt dabei im Blutsystem in den Arterien. Patienten mit erhöhtem Blutdruck, Arteriosklerose, Fettstoffwechselstörungen und Infarktrisiko können demnach von der Einnahme profitieren. Tatsächlich zeigt der Pilz in Studien eine ausgeprägt Wirkung auf die Blutgerinnung sowie einen Einfluss auf das rote Blutbild. Dank seiner bereits erwähnten adaptogenen Eigenschaften hilft der Gebrauch sowohl bei Blutungen, wie etwa bei Personen, die an einem Übermaß von blauen Flecken oder ständigem Nasenbluten leiden, als auch bei Patienten, die eine Blutverdünnung benötigen. Die Fließeigenschaften des Blutes werden durch den Einsatz des Pilzes nachweislich verbessert und sind daher von besonderer Bedeutung bei Patienten mit erhöhtem Blutdruck oder Arteriosklerose. Wichtig ist außerdem der Umstand, dass Auricularia die LDL-Werte verbessert und den Blutdruck senkt. Wesentlich, wenn auch nicht so auffallend wie bei anderen Vitalpilzen, ist seine den Blutzucker normalisierende Wirkung, vermutlich durch Beeinflussung der Insulinresistenz. Abgerundet wird der Effekt auf das Herz-Kreislaufsystem durch den Schutz vor oxidativen Stress.

Das Judasohr wirkt befeuchtend auf trockene Häute und Schleimhäute und ist somit für die kalte Jahreszeit und für die Heizperiode besonders geeignet. Bei Patienten mit grauem Star kann der Pilz ebenfalls gegeben werden, genauso wie bei Neurodermitis oder Hautschäden infolge von Chemotherapie.

Weitere Untersuchungen weisen auf den regulierenden Einfluss von Auricularia auf das Immunsystem hin, wie zum Beispiel auf die Verbesserung der Bildung von Immunzellen in der Milz. Diese Auswirkung sowie der Gebrauch bei Hämorrhoiden lässt schließen, dass der Pilz besonderen Wert im Bezug auf seine humoralen Effekte, zusätzlich auf schwarzgallige Schärfen sowie die Plethora hat und je nach Konstitution eingesetzt werden kann. Ähnliche Indikationen sind in der TCM beschrieben.

Der Hollerschwamm ist bei Patienten indiziert, die entsprechende cholerische Krankheitssymptome aufweisen und die zusätzlich zur konstitutionellen eine symptomorientierte Therapie mit Mitteln aus der Natur wünschen. Für all jene, die Vorbeugen wollen, sollte das Ohr des Judas in den Speiseplan eingebaut werden, da eine allgemein vitalisierende und immunsteigernde Wirkung vor allem im Winter von Vorteil ist.

Text zur Verfügung gestellt von
Mag.a pharm. Dr. Gabriele Kerber-Baumgartner
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