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Bogenschießen aus der Mitte in die Mitte

„Mit einem Pfeil kannst Du nicht zwei Ziele treffen“ – (Sprichwort)

In der Ausführung des Bogenschießens begegnen wir im wahrsten Sinne des Wortes un-terschiedlichen Dreh- und Angelpunkten von Wirkkräften, um deren Gleichgewicht wir auch im Alltag ringen. Um mit einem Pfeil ein gewähltes Ziel zu erreichen, bedarf es ei-ner sicheren Verankerung, einer zentrierten Vertikalachse, einer inneren Sammlung und Ausrichtung, einer kontrollierten Spannung und eines ruhigen Lösens derselben. Die Meis-terschaft all dessen in einem fließend ineinander über Gehen kommt aus der Auseinan-dersetzung mit und der Beherrschung von all diesen Kräften in uns selbst.

Die Verankerung (elementares Wasser)
Die Verbindung der eigenen Wurzeln mit dem Boden ist das Abbild der Sicherheit im ei-genen Stehen. Aus dem in sich Ruhen kommt die Kraft, die von dem, worin wir verwur-zelt sind, durch Beine und Wirbelsäule nach oben gezogen wird und darin das Säulenhafte der Wirbelsäule, das stabil Tragende herausbildet. Es verkörpert, von oben betrachtet, den Mittelpunkt des Mandalas, von dem aus wir, in dem uns zu Verfügung stehenden Ma-ße, unsere Kräfte in die Peripherie lenken und nach außen Wirksamkeit entfalten können, ohne dabei unser Gleichgewicht zu verlieren.

Das Vertrauen in die Macht unseres eigenen Standes errichtet dabei in uns einen Ruhepol, der jedwede Spannung, Emotion, Aufregung, Angst und Streben ausreichend zu kontrol-lieren vermag, sodass wir unserem Wirken eine Ausrichtung zu geben vermögen, in wel-cher sich unsere eigene Mitte im zu erreichenden Ziel widerspiegelt.

Der fliegende Pfeil trägt in seiner Flugbahn die Ruhe der Verwurzelung mit unserem Standpunkt mit sich.

Die vertikale und die horizontale Achse (elementare Erde und elementarer Äther)
Wie bereits erwähnt, erhebt sich vom Boden aus die Zentralachse unseres Körpers, die Wirbelsäule getragen von unseren Beinen. Von ihr aus gehen sowohl Nerven als auch Muskeln in die Peripherie, wirken in den Handlungsspielraum, der sich um dieses Zent-rum dreht. Das koordinierte Zusammenspiel unterschiedlicher Spannungsmuster gibt uns die Möglichkeit, uns auf vielfältige Art und Weise in der Welt zum Ausdruck zu bringen, unterschiedliche Haltungen einzunehmen, Tätigkeiten auszuführen in einem Maße, bei dem wir weder Stand noch Gleichgewicht verlieren. Ein zu weites Hinausreichen über unsere Grenzen, ist in diesem Sinne gleichbedeutend damit, Beherrschung und innere Ruhe zu verlieren. Die Zentrierung ist ein Abbild der eigenen Mitte, des eigenen schöpfe-risch tätigen ICHs, aus dem heraus wir wirksam werden. In angemessener Haltung be-wahren wir den Kontakt zwischen diesem ICH und unserem Handeln und können das Eine auf das Andere beziehen. „Das war ich, der/die hier tätig war und das, was ich geschaf-fen habe, ist ein Abbild meiner Selbst, in dem ich mich wieder finde und erkenne mit all meinen Stärken und Schwächen, dem mir Bewussten und entdecke das mir noch nicht Bewusste.“

Diese Verbindung zwischen Achse und Peripherie ist die Voraussetzung für Selbstsicher-heit und Eigenverantwortung, da die Ergebnisse unserer Ideen, unseres Entscheidens, Ausrichtens und Handelns klar mit uns selbst verbunden bleiben.

Die Achse des gespannten Bogens zischen unseren Händen ist die Horizontale, die mit der Vertikalen ein Kreuz bildet, das Abbild des aufgefalteten Würfels, welcher Ausdruck ist für eine geerdete Stabilität, die imstande ist, große Spannungen im Gleichgewicht zu halten.

Die Klarheit, die in dieser Haltung zum Ausdruck kommt, bildet sich in der Stabilität des Pfeilfluges ab.

Innere Sammlung und Ausrichtung (elementares Feuer)
Den eigenen Geist zur Ruhe zu bringen, ist die nächste Herausforderung. Da beim intuiti-ven Bogenschießen keine Zielvorrichtung benützt wird und beide Augen geöffnet bleiben, ist das Zielen weniger ein aktives, sondern eher ein sich Einschwingen auf die Mitte des Ziels. Dies ist eine Tätigkeit des Herzens, der Verkörperung des Zentrums, die sich in der Sonne als Zentrum des planetaren Systems ebenso zum Ausdruck bringt wie im Zellkern als Zentrum der Zelle und in der Pupille als Zentrum des Auges, in der Synkope des Atems oder des Herzschlags als Innehalten im rhythmischen Fluss. Diese Ausrichtung ist in ebensolchem Maße eine innere, wie es im Richten des Pfeiles auf das Ziel eine äußere ist. Der/die geübte BogenschützIn spürt, ob der Pfeil sein Ziel erreicht, sobald er die Sehne verlässt. Es ist die Verbindung von der Mitte des Herzens zur Mitte des Zieles, die entweder besteht und nicht durch den Bewegungsablauf, noch durch eine Ablenkung des eigenen Fokus gestört wird, oder eben nicht.

Der Flug des Pfeils, in welcher die innere Mitte die äußere sucht, ist in diesem Sinne der Ausdruck dieser Verbindung.

Spannung und Lösung (elementare Luft)
Das Aufbringen von Kraft, die den Bogen spannt, geschieht, wenn die zuvor erwähnten Voraussetzungen geschaffen sind, aus einer ruhigen Leichtigkeit heraus, ohne Zittern – die Stärke des Bogens sollte dafür natürlich der physischen Kondition des/der Schützen/in entsprechen – und ohne Wanken. Der Pfeil ruht dabei zwischen Sehne und Bogen, die wiederum zwischen der Horizontalen der Arme aufgespannt sind. Verwurzelung, aufge-richtete Mitte, innere Zentriertheit, welche in die fokussierte Spannung einfließen, lösen sich schließlich und gehen über in ein vertrauendes Entlassen, das in ein entspanntes Nichts – Tun einmündet. Wir vertrauen den Flug des Pfeiles etwas an, das sich nun unse-rer Kontrolle entzieht, nachdem wir zuvor alles uns Mögliche getan haben, das sich im Folgenden darin zeigt, in welcher Art der Pfeil von der Sehne geworfen seine Bahn be-schreibt und aus der Verbindung mit uns in die Verbindung mit dem Ziel geht.

Der Pfeil ist damit Abbild des von uns Entlassenen, des der Welt Geschenkten, das nun jenseits von uns sein Wirken entfaltet und darin sichtbar macht, von wessen Sehne es geschnellt ist und wes Geist es geschaffen hat.

Bogenschießen ist so betrachtet, eine Übung in bewusster Kontaktaufnahme mit der eige-nen, einzigartigen Identität und im Loslassen all dessen, was Identifizierung ist. Das Eine entsteht im Einfließen des ICH-Wesens ins Ich-Bewusstsein, das andere durch die Be-fürchtung des Egos, nicht gut genug zu sein und dem Bestreben, Eigenschaften Anderer zu entwickeln, die es für besser hält.

Zum Abschluss noch eine kleine Geschichte
Mullah Nasruddin, ein Till Eulenspiegel des Orients, ging mit seinen Schülern spazieren und kam dabei an einem Rummelplatz vorüber. Zielsicher steuerte er den Bogenschieß-stand an mit den Worten: „Ah, hier lässt sich trefflich Theorie mit Praxis verbinden!“

Er nahm den ersten Pfeil, zielte und … verfehlte das Ziel um Längen. Schnell hatte sich eine Menge von Zuschauern um die kleine Gruppe geschart, die schon des Öfteren Ziel der Streiche von Nasruddin geworden waren, um vielleicht beizuwohnen, wie dieser sich nun lächerlich macht.

Die Schüler wurden nervös, da ein Fehlen des Meisters ja auch auf die zurückfallen wür-de, die ihm folgten. Die Menge lachte ob des Versagens des Mullahs, doch dieser wandte sich mit folgenden Worten an sie: „Dies war eine Demonstration! Ich habe mich mit ei-nem Soldaten im Krieg identifiziert. Soldaten sind nervös und ängstlich, deshalb schießen sie daneben und verlieren Schlachten.“

Er nahm den nächsten Pfeil, spannte den Bogen und schoss. Der Flug war so schwächlich, dass der Pfeil dem Ziel nicht einmal nahe zu kommen vermochte. Diesmal schwieg die Menge, da die Menschen befürchteten, wieder zum Teil eines närrischen Streiches des Mullahs zu werden.

Dennoch sprach dieser wieder: „Ich habe mich ein weiteres Mal mit diesem Soldaten identifiziert, der bereits einmal danebengeschossen hat und nun aus lauter Angst vor den Pfeilen der Feinde nicht mehr die Kraft fand, seinen Bogen ausreichend zu spannen.“

Ruhig nahm er den dritten Pfeil und ließ ihn, scheinbar ohne zu zielen, von der Sehne schnellen. Dieser Pfeil fand geradewegs den Mittelpunkt der Zielscheibe. Ohne ein Wort wendete sich Nasruddin dem Schießstand zu, um sich seinen Preis zu holen. Als die Men-schen begriffen, dass er keine Erklärung zum Geschehen abgeben würde, begannen sie lauthals durcheinander zu rufen.

Nasruddin drehte sich um. „Einer soll für alle sprechen.“

Da trat ein besonders mutiger junger Mann vor und fragte: „Ehrwürdiger Mullah, wer hat nun geschossen?“

Nasruddin antwortete: „Das, ach das war ICH!“

In diesem Sinne wünsche ich allen, die sich nach diesen Zeilen möglicherweise zum Bo-genschießen hingezogen fühlen, viel Freude dabei.

Foto Künstlerische Darstellung der Statue »Teucer« von Hamo Thornycroft 1840

Blogtext und © Dieter Poik, www.impuls-naturpraktikerausbildung.at