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Vergiß die Rose nicht – Hinzelmeier • Teil 3

Die Rose

Als Hinzelmeier aus der Betaeubung erwachte, lag er in seinem Bette; Frau Abel sass neben ihm und hielt seine Hand in der ihren. Sie laechelte, da er die Augen zu ihr aufschlug und der Abglanz einer Rose lag auf ihrem Antlitz. “Du hast zu viel erlauscht, um nicht noch mehr erfahren zu muessen“, sagte sie. “Nur darfst du fuer heute dein Bett nicht verlassen; aber waehrenddessen will ich dir das Geheimnis deiner Familie mitteilen.
Du bist jetzt gross genug, um es zu wissen.”

“Erzaehle nur, Mutter“, sagte Hinzelmeier und legte den Kopf zurueck in die Kissen; und dann erzaehlte Frau Abel: “Weit von dieser kleinen Stadt liegt der uralte Rosengarten, von dem die Sage geht, er sei am sechsten Schoepfungstage mit erschaffen worden. Innerhalb seiner Mauer stehen tausend rote Rosenbuesche, welche nie zu bluehen aufhoeren; und jedes Mal, wenn in unserem Geschlechte, welches in vielen Zweigen durch alle Laender der Welt verbreitet, ein Kind geboren wird, springt eine neue Knospe aus den Blaettern. Jeder Knospe ist eine Jungfrau zur Pflegerin bestellt, welche den Garten nicht verlassen darf, bis die Rose von dem geholt worden, durch dessen Geburt sie entsprossen ist. Eine solche Rose, welche du vorhin gesehen hast, besitzt die Kraft, ihre Eigentuemer zeitlebens jung und schoen zu erhalten. Daher versaeumt denn nicht leicht Jemand, sich seine Rose zu holen; es kommt nur darauf an, den rechten Weg zu finden; denn der Eingaenge sind viele und oft verwunderliche. Hier fuehrt es durch einen dicht verwachsenen Zaun, dort durch ein schmales Winkelpfoertchen, mitunter”—und Frau Abel sah ihren Eheherrn, der eben ins Zimmer trat, mit schelmischen Augen an—“mitunter auch durch’s Fenster!” Herr Hinzelmeier laechelte und setzte sich neben das Bett seines Sohnes. Dann erzaehlte Frau Abel weiter: “Auf diese Weise wird die groesste Zahl der Jungfrauen aus ihrer Gefangenschaft erloest und verlaesst mit dem Besitzer der Rose den Garten. Auch deine Mutter war eine Rosenjungfrau und pflegte sechzehn Jahre lang die Rose deines Vaters. Wer aber an dem Garten voruebergeht ohne einzukehren, der darf niemals dahin zurueck; nur der Rosenjungfrau ist es nach dreimal drei Jahren gestattet, in die Welt hinaus zu gehen, um den Rosenherrn zu suchen und sich durch die Rose aus der Gefangenschaft zu erloesen. Findet sie in dieser Zeit ihn nicht, so muss sie in den Garten zurueck und darf erst nach wiederum dreimal drei Jahren noch einmal den Versuch erneuern; aber Wenige wagen den ersten, fast Keine den zweiten Gang; denn die Rosenjungfrauen scheuen die Welt und wenn sie ja in ihren weissen Gewaendern hinausgehen, so gehen sie mit niedergeschlagenen Augen und zitternden Fuessen; und unter hundert solcher Kuehnen hat kaum eine einzige den wandernden Rosenherrn gefunden. Fuer diesen aber ist dann die Rose verloren; und waehrend die Jungfrau zu ewiger Gefangenschaft zurueckgegangen ist, hat auch er die Gnade seiner Geburt verscherzt und muss wie die gewoehnliche Menschheit kuemmerlich altern und vergehen.—Auch du, mein Sohn, gehoerst zu den Rosenherren und kommst du in die Welt hinaus, dann vergiss den Rosengarten nicht.” Herr Hinzelmeier neigte sich zur Frau Abel und kuesste ihre seidenen Haare; dann sagte er, freundlich des Knaben andere Hand ergreifend: “Du bist jetzt gross genug! Moechtest du wohl in die Welt hinaus und eine Kunst erlernen?” “Ja“, sagte Hinzelmeier, “aber es muesste eine grosse Kunst sein; so eine, die sonst noch niemand hat erlernen koennen!” Frau Abel schuettelte sorgenvoll den Kopf; der Vater aber sagte: “Ich will dich zu einem weisen Meister bringen, der viele Meilen von hier in einer grossen Stadt wohnt; da magst du dir selbst eine Kunst erwaehlen.” Da war Hinzelmeier zufrieden. Einige Tage darauf packte Frau Abel einen grossen Koffer mit unzaehlig vielen Kleidern und Hinzelmeier selber legte noch ein Rasierzeug hinein, damit er den Bart, wenn er kaeme, sogleich wieder abschneiden koenne. Dann fuhr eines Tages der Wagen vor die Tuer und als die Mutter ihren Sohn zum Abschied umarmte, sagte sie unter Traenen zu ihm: “Vergiss die Rose nicht!”