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Vergiß die Rose nicht – Hinzelmeier • Teil 2

Der Zipfel

Nun gingen manche Jahre hin, ohne dass Hinzelmeier eine Wiederholung des Wunders erlebt haette; er dachte daher auch ueberall nicht mehr daran, obgleich seine Eltern jung und schoen blieben, wie sie es immer gewesen waren und oftmals auch im Winter der wunderbare Rosenduft sie umgab.

In dem einsamen Korridor des oberen Stockwerks war Hinzelmeier jetzt nur selten noch zu finden; denn die Katze war vor Alter gestorben und so war seine Schule aus Mangel an Schuelern von selber eingegangen. Es war ihm nun schon fast so, als muesste um einige Jahre der Bart zu wachsen anfangen; da ging er eines Nachmittags wieder in den alten Korridor hinauf, um die weissen Waende zu besichtigen, denn er wollte auf?den Abend das beruehmte Schattenspiel „Nebukadnezar und sein Nussknacker“ zur Auffuehrung bringen. In dieser Absicht war er an das Ende des Ganges gekommen und betrachtete die weisse Querwand von oben bis unten, als er zu seiner Verwunderung den Zipfel eines Schnupftuches daraus hervorhaengen sah. Er bueckte?sich, um es genauer zu betrachten; in der Ecke stand: ‚A.H.‘; das konnte nichts anderes heissen als: ‚Abel Hinzelmeier‘; es war das Schnupftuch seiner Mutter. Nun fing’s in seinem Kopfe an zu schnurren und die Gedanken arbeiteten rueckwaerts, weiter und weiter, bis sie bei dem ersten Kapitel dieser Geschichte ploetzlich Halt machten. Hierauf suchte er das Schnupftuch aus der Wand herauszuziehen, was ihm auch nach?einem etwas schmerzhaften Experimente gluecklich gelang; dann schlug er, wie einst die schoene Frau Abel, dreimal mit dem Tuche gegen die Wand; und „eins—zwei—drei—!“ tat sie sich lautlos voneinander, Hinzelmeier schluepfte hindurch und stand—wohin er am wenigsten zu gelangen dachte—auf dem Hausboden. Aber es war nicht daran zu zweifeln; dort stand der Urgrossmutterschrank mit den wackelkoepfigen Pagoden, daneben seine eigne Wiege und weiterhin das Schaukelpferd, lauter ausgedientes?Geraet; unter dem Balken laengs an eisernen Haken hingen wie immer des Vaters lange Maentel und Reisekragen und drehten sich langsam um sich selbst, wenn der Zug durch die offenen Bodenluken hereinstrich. „Sonderbar!“, sagte Hinzelmeier, „warum ging die Mutter denn doch immer durch die Wand?“ Da er indessen ausser den bekannten Gegenstaenden nichts bemerken konnte, so wollte er durch die Bodentür wieder ins Haus hinabgehen. Allein die Tuer war nicht da. Er stutzte einen Augenblick und meinte anfaenglich, sich nur geirrt zu haben, weil er von einer anderen Seite, als gewoehnlich, hinaufgelangt war. Er wandte sich daher und ging zwischen die Maentel durch nach dem alten Schranke, um sich von hier aus zurechtzufinden; und richtig! dort gegenueber war die Tuer; er begriff nicht, wie er sie hatte uebersehen koennen. Als er aber darauf zuging, erschien ihm ploetzlich wieder alles so fremd, dass er zu zweifeln begann, ob er auch vor der rechten Tuer stehe. Allein so viel er wusste, gab es hier keine andere. Was ihn am meisten verwirrte, war, dass die eiserne Klinke fehlte und auch der Schluessel abgezogen war, der sonst immer aufzustecken pflegte. Er legte daher sein Auge an das Schluesselloch, ob er vielleicht Jemanden auf der Treppe oder dem Vorplatz gewahren koenne, der ihn herabliesse. Zu seinem Erstaunen sah er aber nicht auf die dunkle Treppe, sondern in ein helles, geraeumiges Zimmer, von dessen Dasein er bisher keine Ahnung gehabt hatte.

In der Mitte desselben gewahrte er einen pyramidenfoermigen Schrein, der von zwei goldschimmernden Tueren verschlossen und mit wunderlicher Schnitzarbeit verziert war. Hinzelmeier wusste nicht recht, ob das?enge Schluesselloch seinen Blick verwirrte, aber es war ihm fast, als wenn die Gestalten der Schlangen und Eidechsen in der braunen Laubgirlande, welche sich an den Kanten hinunterzog, auf und ab raschelten, ja?mitunter sogar die geschmeidigen Koepfe auf den Goldgrund der Tuer hinueberreckten. Dies alles?beschaeftigte den Knaben so, dass er nun erst die schoene Frau Abel und ihren Eheherrn bemerkte, welche mit?geneigtem Haupte vor dem Schreine niedergekniet waren. Unwillkuerlich hielt er den Atem an, um nicht?bemerkt zu werden; und nun hoerte er die Stimmen seiner Eltern in leisem Gesange: Rinke, ranke, Rosenschein, Tu dich auf, du goldner Schrein! Tu dich auf und schliess uns ein, Rinke, ranke, Rosenschein! Waehrend des Gesanges erstarrte in dem Laubwerk das Leben des Gewuermes; die goldenen Tueren gingen langsam auf und zeigten in dem Innern des Schrankes einen kristallenen Becher, in welchem eine?halberschlossene Rose auf schlankem Schafte stand. Allmaehlich oeffnete sich der Kelch; weiter und weiter, bis eins der schimmernden Blaetter sich abloeste und zwischen die Knieenden hinabfiel. Ehe es aber den?Boden erreichte, zerstob es klingend in der Luft und fuellte das Gemach mit rosenrotem Nebel. Ein starker Rosenduft quoll durch das Schluesselloch; der Knabe presste sein Auge an die Oeffnung, aber er gewahrtenichts, als dann und wann ein Leuchten, das in der roten Daemmerung aufbrach und wieder verschwand. Nach einer Weile hoerte er Schritte an der Tuer; er wollte aufspringen, aber ein heftiger Schmerz an der Stirn raubte ihm die Besinnung.